Diese Stadt ist für jeden, der gerne etwas tiefer in die russische Seele vordringen möchte, sehr zu empfehlen. Es geht einiges, aber nicht alles ohne Russisch-Kenntnisse. Meine beiden Begleiter Markus und Andreas besuchen mit mir einen Russisch-Kurs. Und da wir die Standard-Reisen nach Moskau und Sankt Petersburg schon absolviert hatten, musste eine neue, etwas „russischere“ Destination her. Die Wahl fiel auf Kazan. Die Stadt an der Wolga ist nur etwa eine Flugstunde von Moskau entfernt und hat einiges an Kultur zu bieten. Die Stadt wurde zwar für die Fußball Euro 2018 etwas herausgeputzt und für Touristen tauglicher gemacht, das betrifft aber eher nur öffentliche Einrichtungen, wie den Flughafen, das Stadion, Museen und die Speisekarten in Restaurants im Zentrum (Prachtstraße ул. Бауманa). Ansonsten wirkt die gesamte Stadt trotz ihrer Größe etwas verschlafen und spröde und lässt den verwöhnten europäischen Touristen manchmal etwas ratlos zurück. Kein Vergleich zu den hektischen Metropolen, die ihre Besucherströme kaum zu bändigen wissen, aber eine unglaubliche touristische Infrastruktur bieten.
Eckdaten zur Reise
Flug: München-Moskau-Kazan (www.aeroflot.com)
Unterbringung: Wir haben eine ganze Wohnung über Booking.com gemietet. Das Finden der Unterkunft vor Ort in der Nacht war spannend. Wir hatten zwar eine Adresse und einen Whatsapp-Kontakt, die Ansprechpartnerin sprach aber eher kein Englisch. Wir waren uns nach einer längeren Aeroexpress-Fahrt zwar sicher, vor dem richtigen Plattenbau zu stehen, aber welchen Eingang wir nehmen sollten, wusste keiner. Wir wurden von einem rauchenden, jungen Jogginganzug-Träger angequatscht, ob wir eine Wohnung suchen… Auch er sprach eher nur Russisch, was wir zwar auch tun, aber eher nicht um 12 Uhr nachts. Jedenfalls gingen wir mit ihm mit (wir waren ja schließlich zu dritt…). Oben erwartete uns eine junge Frau, die uns den Schlüssel übergab und verschwand. Das wars. Wir waren anscheinend angekommen. Die Wohnung bestach durch Ikea Möbel, war modern, sauber und recht geräumig. Die jungen Russen sahen wir nicht mehr. Eine recht resolute Putzfrau kehrte uns am letzten Tag dann vormittags aus der Wohnung.
Buchung über: höchst selbst
Fortbewegung: klassisch per Bus oder per pedes
Die Stadt
Kazan (Казань) ist ein etwas verschlafenes Großstädtchen (schlappe 1,1 Mio Einwohner) im Westen Russlands. Es kommt einem schon seeehr weit weg von Europa vor, aber eigentlich sind wir noch tausende Kilometer vom echten Osten entfernt. Kazan ist die ehemalige Hauptstadt von Tartarstan. Hier verbinden sich verschiedene Religionen und Bräuche zu einem funktionierenden Ganzen. In friedlicher Koexistenz verkünden Kirchen und Moscheen nebeneinander ihre Melodien, stehen super moderne Business-Center neben alten Hütten im Tartarenviertel und prallen neuer Reichtum auf verfallende Erinnerungen aus (gar nicht so) alten Tagen. Eingerahmt von den sanften Ufern der Wolga macht diese Stadt einen sehr entspannenden Eindruck auf den Besucher. Fernab des bekannten Touristen-Wahnsinns und etwas vergessen vom großen Aufschwung, ist diese Stadt definitiv eine Reise wert.
Unsere Tipps
Die Kul-Scharif-Moschee (Мечеть Кул-Шариф) mit ihrem roten Vorplatz ist sicherlich eines der Wahrzeichen der Stadt. Sie ist nicht sehr alt, aber von wunderbarer Architektur und Akustik. Besichtigen kann man sie problemlos, sogar einen der Türme darf man besteigen.
Der Tempel aller Religionen (Храм всех религий) befindet sich etwas außerhalb der Stadt und wirkte bei unserem Besuch geradezu verfallen. Das ist einem großen (offenbar mit Absicht gelegten) Feuer zu verdanken. Dieses Feuer hat einige der individuell und liebevoll eingerichteten Räume des unglaublich verschachtelten Gesamtkunstwerks zerstört. Auch der darin wohnende Verwalter kam dabei ums Leben. Jedenfalls bauen die Nachfahren des Erbauers Ildar Chanow diesen Ort der Gemeinschaft und Spiritualität nun nach bestem Wissen wieder auf und hoffen auf etwas finanzielle Unterstützung, da der Staat nichts dafür übrig hat.
Mehr Infos zum Projekt z.B. unter: https://www.zeit.de/reisen/2012-03/kasan-tatarstan
Der Kasaner Kreml (Казанский кремль) ist sehr klein im Gegensatz zum Moskauer Kreml, aber ebenfalls reich an hübschen Regierungsgebäuden, sowie Kirchen und Moscheen.
Aus dem Nähkästchen
Beim Kasaner Hochzeitsturm (Центр семьи Казань), der aussieht, wie ein großer Trinkpokal, fand zufällig ein Fischmarkt statt. Nach einer Stärkung aus Kwas (квас) und mit Fisch gefüllten riesigen Teigtaschen (пирожки), wurden meine beiden Reisekollegen doch glatt vom lokalen Fernsehen zu einem Interview gebeten. In russisch-englisch und mit allen zur Verfügung stehenden Gliedmaßen ging das schon.
Wir wollten eine Bootsfahrt auf der Wolga machen. Dazu fuhren wir hinaus zum kleinen Hafen, und wollten Karten kaufen. Ohne Russisch fast unmöglich. Dann waren wir in einer kleinen Cafe-Bar (die einzige weit und breit), um die Zeit mit einem gepflegten Bier und Sakuski totzuschlagen. In so einem Cafe, in dem nur Einheimische herumsitzen, kann es durchaus vorkommen, dass einem ein russischer Opa auf Russisch erzählt, wie der Bulgarische Präsident bei einem Schiffsunglück ertrunken ist, oder dass ein Schiff aus Bulgarien in der Wolga unterging? Jedenfalls habe ich brav genickt und am Ende des Tages gegooglet, um die Wahrheit ans Licht zu bringen:
https://orf.at/v2/stories/2067985/
https://www.diepresse.com/677167/staatstrauer-71-leichen-aus-schiff-in-wolga-geborgen
Kulinarik und Märkte
Durch die schiere Größe dieses Landes ist die „russische“ Küche immer schwierig zu beschreiben. Kazan, als Binnenstadt an einem großen Fluss, bietet so ziemlich alles, was die Natur hergibt. Jegliche Gemüsesorten wachsen im niederschlagsreichen, kontinentalen Klima, es gibt Fisch, Fleisch, Eintöpfe und die obligatorischen Teigtaschen. Im Zentrum finden sich natürlich auch internationale Restaurants mit bekannter Küche sowie Fastfood- und Kaffee-Ketten. Zu trinken gibt es gutes Bier, Kwas und Vodka in Hülle und Fülle! Zu den Gepflogenheiten gehören Aperitif und Sakuski (Vorspeisen, wie am Bild zum Beispiel geröstete Brotstangen, frittierte Fischchen, oder Teigtaschen) und der obligatorische Vodka mit Salzgurken zu Beginn, in der Mitte und am Ende des Restaurantbesuchs und immer dann, wenn jemand sein Glas erhebt und „зa здоровье!“ ruft.
Der Besuch einer Markthalle, in denen sich die Einheimischen tummeln, ist für mich immer ein besonderes Highlight. Dort drinnen gibt es neben Lebensmitteln aber auch fast alles andere zu kaufen: Grillzubehör, Kleidung, Haushaltsartikel, Kinderspielzeug, und sogar Souvenirs.
До скорой встречи, дорогая Россия!